Veranstaltung: | Landesdelegiertenkonferenz 24./25. Mai 2025 in Köln |
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Tagesordnungspunkt: | 8. Verschiedenes |
Antragsteller*in: | LAG Gesundheit (dort beschlossen am: 09.04.2025) |
Status: | Eingereicht |
Eingereicht: | 09.04.2025, 23:14 |
V3: Kindermedizin neu denken und stärker aufstellen!
Antragstext
Kinder und Jugendliche werden im deutschen Gesundheitssystem seit vielen Jahren
systematisch benachteiligt. Die Kinder- und Jugendmedizin ist in allen Bereichen
und Sektoren chronisch unterfinanziert. Dabei ist evident, dass eine Investition
in die Kinder- und Jugendgesundheit nicht nur eine moralische und
gesellschaftliche Verpflichtung ist sondern auch eine volkswirtschaftlich
sinnvolle Maßnahme darstellt. Denn: Gesunde Kinder von heute sind die gesunden
Erwachsenen von morgen!
durch Vorschaltung von kompetenten Instanzen (z. B. telemedizinische
Beratungsangebote) sowie eine Ausdifferenzierung rettungsdienstlicher
Leistungen im Rahmen anstehender Reformen von Notfallversorgung und
Rettungsdienst die Fehlinanspruchnahme der Notfallstrukturen durch
Bagatellerkrankungen vermindert und die Elternkompetenz gestärkt wird,
Begründung
Die gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben in Deutschland in den letzten Jahren zu einer kritischen Entwicklung in allen Bereichen der Kinder- und Jugendgesundheit geführt. Klassische Wohlstandserkrankungen wie z. B. Übergewicht oder Adipositas betreffen über 15% aller Minderjährigen (KiGGS Bericht Welle 2 2014-2017 [1]). Studien zeigen eine Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit von Kindern und eine Zunahme von Störungen im Bereich der Koordination und Aufmerksamkeit (ibd.). Verstärkt durch die Corona-Pandemie und die begleitenden Maßnahmen hat die Belastung durch psychische Probleme zugenommen (COPSY Studie [2]). Es ist absehbar, dass sich diese Welle von chronischen Erkrankungen und Handicaps in die zukünftige Erwachsenengeneration forttragen wird. Maßnahmen zur Stärkung der Kinder- und Jugendgesundheit sind damit nicht nur moralisch und gesellschaftlich geboten sondern auch eine volkswirtschaftliche sinnvolle Investition in die Zukunft.
Dieser Zunahme von Auffälligkeiten der körperlichen und psycho-sozialen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen steht eine seit Jahrzehnten zunehmende Ressourcenverknappung in der Kinder- und Jugendmedizin entgegen, welche sich in absehbarer Zukunft dramatisch verstärken wird. Diese Ressourcenverknappung betrifft alle Bereiche der Kinder- und Jugendgesundheit, den ambulanten und stationären Bereich sowie den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD).
In Deutschland sind seit Einführung des Fallpauschalensystems jede vierte Kinderklinik und jedes dritte Kinderklinikbett geschlossen worden, bei steigenden stationären Fallzahlen [3]. Insbesondere in strukturschwachen Regionen sinkt die Zahl der Kinder- und Jugendarztpraxen kontinuierlich. In dieser Überlastungssituation – in der ambulanten wie in der stationären Versorgung - ist oft zu wenig Zeit für ausreichende Beratungen und Aufklärungen. Damit kommen wichtige gesprächs- und zuwendungsorientierte Angebote für die Familien zu kurz, insbesondere in der spezialisierten Pädiatrie.
Daher sind grundlegende gesundheitspolitische Weichenstellungen dringend notwendig, um präventive und aufklärende Maßnahmen in der Kinder- und Jugendgesundheit zu stärken, das Netzwerk der Vorsorgeuntersuchungen auszubauen und die Behandlung von akuten und chronischen Erkrankungen im ambulanten und stationären Bereich sicherzustellen.
Im Folgenden werden die spezifischen Probleme getrennt nach den Sektoren der Gesundheitsversorgung skizziert, um die Problemanalyse zu erleichtern. Letztlich ist Kinder- und Jugendmedizin aber immer ganzheitlich und sektorübergreifend zu denken. Daher werden bei der Erarbeitung von Lösungsansätzen die stationäre und ambulante Versorgung kranker Kinder und Jugendlicher und die Gesundheitsprävention ineinandergreifend und gemeinsam gedacht.
Problemanalyse:
Kinder- und Jugendmedizin in der ambulanten Versorgung
Die weitaus größte Zahl von Behandlungen von Kindern und Jugendlichen findet in den 8.346 kinder- und jugendärztlichen Praxen statt (Stand 31.12.2023, Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte) statt. Die zunehmende Verschiebung von Behandlungen vom stationären Bereich in den ambulanten Sektor sowie die erhebliche Verkürzung von stationären Behandlungen haben dazu beigetragen, dass Therapien oft im ambulanten Bereich fortgeführt werden müssen. Zudem bedürfen Kinder und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen, Entwicklungs- oder Verhaltensstörungen eine spezifische wohnortnahe Basisversorgung, die oftmals nicht gewährleistet ist. Insgesamt ist das Netz spezialärztlicher pädiatrischer Praxen (z.B. Kinderkardiologie, -neurologie oder -gastroenterologie) zu dünn und bei weitem nicht flächendeckend. In den kommenden 5 Jahren wird mehr als jede:r Vierte der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt:innen das Rentenalter erreichen. Gleichzeitig ist die Bereitschaft zur Übernahme von Praxen bei jungen Ärzt:innen gesunken. Der Fachkräftemangel spiegelt sich auch im nicht-ärztlichen Praxispersonal wider. Als Konsequenz sind die Kinder- und Jugendarztpraxen bereits jetzt überlastet. Bei kontinuierlich sinkender Zahl der Kinder- und Jugendarztpraxen insbesondere in strukturschwachen Regionen wird sich diese Situation in den kommenden Jahren weiter verschärfen.
Die zwei größten Aufgabenbereiche pädiatrischer Praxen bilden die medizinische Präventionsleistungen (Früherkennungsuntersuchungen und Impfungen) und die Behandlung von Kindern mit akuten Infekten. Die Vorsorgeuntersuchungen sind in den letzten beiden Jahrzehnten hinsichtlich ihrer Zahl und ihres Umfangs ausgebaut worden. Zudem werden mehr Impfungen angeboten. Beides führt zu einer erheblichen Ausweitung der Leistungsanforderungen im Bereich der medizinischen Prävention.
Bei komplexeren neuropsychologischen Erkrankungen (z. B. Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstörungen) im sozialpädiatrischen Bereich verteilen sich die Aufgaben auf Sozialpädiatrische Zentren (SPZ),die Kinder- und Jugendärzt:innen und Kinder- und Jugendpsychiater:innen sowie auf die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen [4, 5]. In allen genannten Bereichen besteht eine erhebliche Unterversorgung. Beispielsweise beträgt die durchschnittliche Wartezeit für einen diagnostischen Termin in einem SPZ ein Jahr (Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin).
Die Versorgung in der Sozialpädiatrie und Schwerpunktmedizin verschlechtert sich zunehmend, da spezialisierte Leistungen im EBM für die Kinder- und Jugendarztpraxen nicht annähernd kostendeckend honoriert werden. Nur durch die Behandlung von möglichst vielen Kindern und Jugendlichen in kurzer Zeit („Fließbandmedizin“) lässt sich eine Praxis noch auskömmlich finanzieren.
Kinder- und Jugendmedizin im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD)
Die Aufgaben des Kinder- und Jugendgesundheit sind in NRW durch §12 des ÖGD-Gesetzes festgelegt. Das ÖGD-Gesetz erfährt aktuell im Landtag eine Novellierung durch die schwarz-grüne Koalition, um den ÖGD an ein modernes, zeitgemäßes Leitbild anzupassen. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf der gesundheitsförderlichen Gestaltung des Lebensumfeldes, auch von Kindern und Jugendlichen, der Förderung von Gesundheitskompetenz sowie der Koordination und Vernetzung von Gesundheitsämtern mit weiteren gesundheitsrelevanten Akteuren und Behörden in der Kommune.
Trotz des Paktes für den ÖGD mit Stellenzuwachs insb. im Infektionsschutz und in der Verwaltung gestaltet sich die Personalgewinnung und -bindung weiterhin schwierig, was insb. der aktuell befristeten Finanzierung des ÖGD-Paktes bis Ende 2026 geschuldet ist. Die neue Bundesregierung ist daher aufgefordert, den ÖGD-Pakt in Zusammenarbeit mit den Ländern fortzusetzen und dafür entsprechende Mittel bereitzustellen. Aufgrund der o.g. Entwicklungen besteht ein erhöhter Bedarf an gesundheitlicher Betreuung von Kindern und Jugendlichen in ihrem Lebensumfeld. Dennoch wurde diese in den letzten Jahren in die ambulante Pädiatrie verschoben, ohne dass diese Zielgruppe dort ausreichend erreicht wird.
Alle Kinder werden vor Beginn der Schulpflicht in NRW durch die Kinder- und Jugendgesundheitsdienste in der verpflichtenden, standardisiert durchgeführten Schuleingangsuntersuchung erfasst. Diese vollständige Untersuchung eines Jahrganges ist für die Gesundheitsberichterstattung und Gesundheitsplanung der Kommunen von großem Wert. Auch in die Versorgung von nicht-GKV-versicherten Menschen und in der Versorgung geflüchteter Kinder und Jugendlicher ist der ÖGD in NRW eingebunden.
Die zunehmende multiprofessionelle Ausrichtung der Gesundheitsämter, ist eine große Stärke des ÖGD. Gleichzeitig gestaltet sich die Gewinnung insb. von kinder- und jugendärztlichem Personal weiterhin schwierig, selbst wenn sich Anstellungen mit einer guten Vereinbarkeit von Familie und Beruf umsetzen lassen. Grund hierfür ist die Besoldung nach TvÖD, die deutlich (ca. 15%) unter den Vergütungen vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) oder dem Grundgehalt in kommunalen Krankenhäusern liegt.
Kinder- und Jugendmedizin in der klinischen Versorgung
Das Fallpauschalen- (DRG) System der Krankenhausfinanzierung hat quer über alle Fachgebiete der stationären Medizin Fehlanreize gesetzt, die sich insb. in der Kinder- und Jugendmedizin stark negativ auswirken. Seit dessen Einführung 2000 wurde jede vierte Kinderklinik geschlossen und jedes dritte Kinderklinikbett stillgelegt. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der behandelten stationären Krankenhausfälle in der Kindermedizin um 10% gestiegen [3]. Das Ergebnis ist eine deutliche Verdichtung der Arbeit in den Kinderkliniken.
Die Kinderkliniken sind in der Fläche für die Grundversorgung, insb. in der Neugeborenen- und Frühgeborenmedizin (Neonatologie) sowie für Kindern mit akuten Erkrankungen, zwingend erforderlich. In einigen bevölkerungsschwachen Regionen ist keine Kinderklinik in einer angemessenen Fahrzeit (< 40 Minuten) erreichbar. Das Netz für die kinderchirurgische, spezialisierte pädiatrische oder kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung zeigt noch größere Lücken. In Ballungszentren hingegen liegen die fachlichen Schwerpunkte großer Kinderkliniken zunehmend auf Spezialgebieten wie z.B. der Kinderonkologie, Kinderkardiologie oder Neuropädiatrie, zum Teil zu Lasten der allgemeinen Kinderheilkunde. Um diese spezialisierten Zentren zu erreichen, sind für Familien aus ländlichen Regionen oft Fahrzeiten von über einer Stunde erforderlich.
Die Vernetzung zwischen kleineren und größeren Zentren ist nicht politisch planerisch gestaltet, geschweige denn finanziell unterfüttert (z. B. im Sinne von auskömmlich finanzierten shared-care Modellen), sondern beruht oft auf individuellen Kooperationsvereinbarungen, meist zum finanziellen Nachteil der kleineren (überweisenden) Kliniken. Auch digitale Lösungen für eine gemeinsame Behandlungsplanung und den Austausch wichtiger Behandlungsinformationen zwischen stationärem Setting und ambulanter Versorgung sind in der Regel nicht etabliert.
Die akute Notfallversorgung basiert meist auf regional individuellen Kooperationsmodellen zwischen Niedergelassenen, Kassenärztlichen Vereinigungen und Kinderkliniken. Selten sind dabei echte gemeinsame Modelle mit gemeinsamer Nutzung von Räumlichkeiten und/oder IT etabliert – was jedoch hohes Potenzial für eine verbesserte Versorgungsqualität, Verfügbarkeit und Kosteneinsparungen hätte.
Im Bereich der Kinderkrankenpflege stehen wir am Anfang der Katastrophe. Bereits jetzt sind die Zustände teilweise dramatisch, und der Fachkräftemangel spitzt sich immer weiter zu. Schon vor der Pflegeberufereform mit Einführung der generalistischen Pflegeausbildung bestand ein Kinderkrankenpflegemangel. Seitdem hat die Zahl der Pflegeabschlüsse mit Vertiefung oder Spezialisierung Kinderkrankenpflege aber weiter stark abgenommen. Gleichzeitig sind die Vorgaben für die Pflegebesetzung verschärft worden. Als Ergebnis ist ein zunehmender Mangel an qualifizierten Pflegefachpersonen in der Kinderkrankenpflege zu verzeichnen, der die Aufrechterhaltung der klinischen Versorgung dramatisch erschwert.
Letztlich ist die klinische Kinder- und Jugendmedizin seit vielen Jahren chronisch unterfinanziert. Das beruht unter anderem auf dem Umstand, dass 80% der stationären Fälle als Notfälle aufgenommen werden. Das Patient:innenaufkommen ist hierbei jedoch stark schwankend. Das führt gerade in den Infektionswellen regelmäßig zur Überlastung der Kinderkliniken. Gleichzeitig deckt die Kinder- und Jugendmedizin das komplette Spektrum der konservativen und operativen Medizin vom Frühgeborenen bis zum Jugendlichen ab. Viele der in der Kinder- und Jugendmedizin behandelten Erkrankungen sind selten und hoch individuell. Daraus resultieren hohe Vorhaltekosten, um das gesamte Spektrum dieser Erkrankungen, bei teils geringer Fallzahl, angemessen behandeln zu können. Der Ansatz des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG) birgt das Potenzial, Vorhaltekosten durch die Definition von Leistungsgruppen angemessen abzubilden und damit eine auskömmlichere Finanzierung zu ermöglichen. In der aktuellen Ausformulierung bilden die Leistungsgruppen allerdings das Fach nicht angemessen ab. Sollten – wie in den Koalitionsverhandlungen derzeit diskutiert – die Leistungsgruppen für die spezielle Kinder- und Jugendchirurgie bzw. spezielle Kinder- und Jugendmedizin gestrichen werden, wäre die in den Kinderkliniken etablierte hoch spezialisierte Kinder- und Jugendmedizin nur in kleinen Teilbereichen in der Krankenhausreform abgebildet. Es droht eine Zweiklassenmedizin mit Benachteiligung der Kinder und Jugendlichen.
Kinder- und Jugendgesundheit im gesellschaftlichen Kontext
Viele Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland in Verhältnissen und Lebenslagen auf, die sich nachteilig auf ihre Gesundheit auswirken. Insb. Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien leben häufig in beengten Wohnverhältnissen und von Armut geprägten Quartieren und sind z. B. häufiger Lärm- und Umweltbelastungen ausgesetzt. Vielen dieser Familien haben Probleme sich im Dickicht des deutschen Gesundheitssystems zu orientieren, sodass sie keine angemessene medizinische Betreuung erhalten. Zudem fällt ihnen das Verstehen und Umsetzen von Gesundheitsinformationen schwer. Maßnahmen zur Gesundheitsprävention werden nicht umgesetzt; die Kinder sind ungesund ernährt und bewegen sich zu wenig [1]. Gleichzeitig lässt sich eine zunehmende Fehlinanspruchnahme des Gesundheitssystems beobachten; viele Fälle landen in der Notaufnahme, die eigentlich ambulant behandelt werden könnten, rettungsdienstliche Transporte werden für Bagatellerkrankungen in Anspruch genommen
Kinder- und Jugendmedizin im Netzwerk der verschiedenen Akteure
Alle beteiligten Akteure stimmen darin überein, dass die Netzwerke zwischen den verschiedenen Sektoren und Akteuren in der Kinder- und Jugendgesundheit zu schwach sind. Es fehlen sektorenübergreifende Angebote aus einer Hand. Die Telematik-Infrastruktur (z. B. die elektronische Patient:innen-Akte) sowie andere Schnittstellen sind nicht entwickelt. Damit kommt es immer wieder zu Brüchen in der Kommunikation und letztlich in der medizinischen Betreuung von Kindern und Jugendlichen.
Darüber hinaus sind verhaltenspräventive Maßnahmen im Versorgungsnetzwerk zu schwach abgebildet und finden sich fast ausschließlich im ambulanten Sektor. Brücken im Lebensumfeld der Kinder zwischen ihrem Zuhause und Kindertagesstätten, Schulen, Freizeitinstitutionen oder Vereinen, sind nicht geschlagen. Daher bedarf es einer Koordinierung der verschiedenen Maßnahmen vom Lebensumfeld der Kinder und Jugendlichen bis in die verschiedenen medizinischen Angebote der ambulanten und stationären Versorgung.
Einen ersten Schritt in diese Richtung stellt das sich in Vorbereitung befindende inklusive Kinder und Jugendstärkungsgesetz (iKJSG) dar. Dieses bezieht die Jugendhilfe wesentlich stärker in die Betreuung und Unterstützung von Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Teilhabebeeinträchtigung (durch chronische Erkrankung/ Behinderung/ Entwicklungs- und Verhaltensstörungen) mit ein.
Lösungsansätze
Kinder- und Jugendmedizin muss in allen Aspekten und in allen ihren Dimensionen stärker aufgestellt werden: besser personell ausgestattet, besser finanziert und mit einer stärkeren Gewichtung der Gesundheitsprävention und der zuwendungsorientierten sprechenden Medizin. Bei insgesamt begrenzten Ressourcen wird dabei die Stärkung von Netzwerken entscheidend sein - zwischen niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt:innen, ÖGD und Kinderkliniken, allen weiteren in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen engagierten Institutionen und den Familien. Dies kann durch die Nutzung der Telemedizin unterstützt werden. Diese Netzwerke müssen als neue Ressourcen gesehen werden. Gleichzeitig muss die Gesundheitskompetenz in den Familiengesteigert werden.
Wir schlagen daher folgende konkreten Lösungsansätze vor:
A: Stärkung der Gesundheitsprävention als wichtigste Aufgabe in der Kinder- und Jugendgesundheit:
- Gestaltung gesundheitsförderlicher Lebensumgebungen in Kitas, Schulen und im Quartier, z. B. durch den Abbau von Umweltbelastungen, bewegungsförderliche Angebote, Angebote zur Stärkung der mentalen Gesundheit, gesunde und regionale Kantinenküche und die Befreiung armer und einkommensschwacher Familien von Essensgebühren.
- Gesundheitsförderung durch Integration gesundheitlicher Bildung durch schulische Curricula und außerschulische Betreuung sowie direkte Ansprache von Kindern und Jugendlichen in KiTas und Schulen zur Verhaltensprävention und Stärkung ihrer körperlichen und psycho-sozialen Gesundheit
- Stärkung des Kinder- und Jugendmedizinischen Dienstes im ÖGD mit Ziel einer datengestützten Bedarfsermittlung und aktiv gestaltenden Gesundheitsbetreuung -begonnen bei den Frühen Hilfen über Kitas bis zu den Schulen
- Aufbau von interdisziplinären und multiprofessionellen Netzwerken unter Einbindung von zusätzlichen Expert:innen (z. B. Kinder- und Gesundheitspflegefachpersonen), um eine koordinierte sektorenübergreifende und interdisziplinäre Behandlung zu ermöglichen
- Verbesserung der Versorgung von Fällen mit Kindeswohlgefährdung hinsichtlich diagnostischer Abklärung, Informationsaustausch und weiterer Versorgung der Kinder im Sinne einer landesweit einheitlichen und verbindlichen, auskömmlich finanzierten Regelung (z. B. MeKids.BEST Projekt)
- Einbindung betreuender (z. B. pädagogischer) Fachpersonen und Einsatz von qualifizierten medizinischen Fachkräften in Schulen und KiTas (früher: „Schulschwester“) für die Begleitung von Kindern mit chronischen Erkrankungen ggf. als Ersatz für die individuellen Schulbegleiter:innen
- Fortlaufende, berufsbegleitend Schulung von Gesundheitskompetenz der o.g. Fachpersonen
- Gezielte Ansprache der Eltern als Zielgruppe für die Verhaltensprävention, auch unter Einsatz neuer (sozialer) Medien oder KI-gestützter/telemedizinischer Angebote sowie mehrsprachiger Informationen oder Beratungsangebote
- Konkrete Umsetzung der weiteren Empfehlungen aus der 6. Stellungnahme der Expert:innengruppe Gesundheit und Resilienz
Zielthemen der gesundheitspädagogischen Maßnahmen sind eine gesunde Ernährung, Körperpflege und Hygiene, Förderung eines aktiven Alltags einschl. sportlicher Aktivitäten, Medienkompetenz, Gesundheitsprävention (z. B. Impfungen) sowie die Bewältigung von chronischen Erkrankungen, Entwicklungsstörungen und Verhaltensstörungen etc.. Die Stärkung der Gesundheitskompetenz der Eltern und pädagogischen Betreuungspersonen verhindert eine Fehlinanspruchnahme medizinischer Leistungen, beugt Krankheiten vor und wirkt einer Überlastung des Gesundheitssystems entgegen. Der langfristige, auch volkswirtschaftliche, Gewinn ist offensichtlich, denn gesunde Kinder und Jugendliche haben die besten Voraussetzungen, gesunde und auch gesundheitskompetente Erwachsene zu werden.
B: Stärkung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit schweren akuten oder chronischen Erkrankungen, Entwicklungsstörungen oder Behinderung:
- Ausbau von auskömmlich finanzierten sektorenübergreifenden Versorgungsmodellen (Kliniken – SPZ – Praxen)
- Förderung der Übernahme von freiwerdenden Praxissitzen durch eine auskömmliche Honorierung und den Abbau von Bürokratie, Misstrauenskultur und Regressen
- Ausbau von Netzwerken zwischen medizinischen Einrichtungen und nicht medizinischen Gesundheitsberufen
- Sicherstellung der bestmöglichen Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderung in ihrem Lebensumfeld durch gute und informierte Betreuung
- Einrichtung von Kinderklinik-Institutsambulanzen für die spezialfachärztliche Versorgung, insb. in Fachgebieten ohne ausreichende Spezialist:innen in der Niederlassung
- Anreize zur Niederlassung von Kinder- und Jugendärzt:innen in unterversorgten Gebieten
- Förderung von mobilen und/oder digitalen/telemedizinischen Kindersprechstunden in Regionen mit geringer Bevölkerungsdichte und schwachem Versorgungsangeboten
- Sicherstellung der ausreichenden Versorgung durch SPZs in NRW und Etablierung einer auskömmlichen, landesweit einheitlichen Finanzierung, konkret in Höhe der z. B. in Bayern festgelegten SPZ-Pauschale (die Pauschalen in Bayern sind bis zu 3x höher als in NRW – bei gleichen Strukturanforderungen) und Angleichung der Honorierung von Schwerpunktpädiatern in den Praxen
- Ausbau und Stärkung der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsangebote sowie der kinder- und jugendpsychotherapeutischen Behandlungsplätze im Versorgungsnetzwerk
- Flächendeckender Ausbau von psychosozialen und sozialmedizinischen Betreuungsangeboten
Die bestmögliche Behandlung chronischer Erkrankungen ermöglicht die (soziale) Teilhabe der Kinder und Jugendlichen am Leben der Gesellschaft und erfüllt damit die Vorgaben der UN-Charta der Kinderrechte sowie die Behindertenrechtskonvention der UN. Darüber hinaus werden die Gesundheitskompetenz, die Gesundheitsfür- und -vorsorge sowie die Resilienz der späteren Erwachsenen gestärkt und damit ebenfalls positive langfristige Effekte erzielt.
C: Stärkung der ambulanten Akut- und Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen sowie der Möglichkeit zur wohnortnahen Basisbetreuung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderung:
- Sicherstellung einer auskömmlichen Finanzierung der ambulanten Kinder- und Jugendmedizin und entsprechenden Fachpflege, mit stärkerer Gewichtung der zuwendungsorientierten sprechenden Medizin, der Vorsorge- und Präventionsleistungen bei gleichzeitiger angemessener Vergütung der Akut- und Notfallversorgung
- Etablierung von Kinder Integrierten Notfallzentren (KINZ) als sektorenübergreifende Versorgungsmodelle in der Reform der Notfallversorgung unter Berücksichtigung der regionalen Möglichkeiten
- Stärkung der pädiatrischen Expertise in der Notfallversorgung (z. B. regionale Kinder-Notarztfahrzeuge, stärkere Berücksichtigung in der Notarztausbildung)
- Förderung von berufsbegleitenden Angeboten für medizinische Fachangestellte in der Kinder- und Jugendmedizin, z. B. als Präventionsassistent:in oder Sozialpädiatrische:r Assistent:in
- Schaffung von funktionierenden und sicheren (z. B. digitalen) Strukturen für einen verbesserten fallbezogenen Informationsaustausch zwischen z. B. pädiatrischen Praxen und anderen (medizinischen) Institutionen (ÖGD u. a.)
- Einrichtung von vorgeschalteten niederschwelligen fachlichen Beratungsstrukturen (telefonische, telemedizinische, KI-gestützte Beratung), um die Fehlinanspruchnahme der Notfallstrukturen durch Bagatellerkrankungen zu reduzieren
- Stärkung des medizinischen Nachwuchses in der Kinder- und Jugendmedizin durch Ausbau der Medizinstudienplätze, Beibehaltung des verpflichtenden pädiatrischen Praktikums, Förderung und Finanzierung von ambulanten pädiatrischen sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Weiterbildungsstellen
Wegen der hohen Inanspruchnahme der ambulanten Versorgungsangebote und der Fehlinanspruchnahme der Notfallversorgung durch Bagatellerkrankungen müssen der kindermedizinische Nachwuchs gefördert und niederschwellige Angebote geschaffen werden. So kann eine sprechende und zuwendungsorientierte Kinder- und Jugendmedizin erreicht werden, die letztlich die Elternkompetenz stärkt und die Kindergesundheit fördert.
D: Stärkung der stationären Versorgung von schwer erkrankten Kindern und Jugendlichen:
- Auf Krankenhausebene politische Planung von Netzwerken zwischen Kliniken der Grundversorgung und spezialisierten Zentren
- Aufbau von IT-Strukturen sowie Sicherstellung einer auskömmlichen Finanzierung für shared-care Modelle zwischen diesen Partnern
- Sicherstellen, dass die zusätzlichen Einnahmen aus dem KHVVG direkt für die Versorgung der Patient:innen am Krankenbett verwendet und nicht zur (vermeintlichen) Deckung von Defiziten eingesetzt werden. Angemessene Abbildung der spezialisierten Pädiatrie in den Leistungsgruppen des KHVVG und angemessene Festlegung der notwendigen Vorhaltestrukturen
- Sicherstellung der pädiatrischen Pflegekompetenz: Wir fordern die Wiedereinführung der Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeausbildung. Alternativ muss für generalistisch ausgebildete Pflegefachpersonen eine berufsbegleitende spezifisch pädiatrische Nachqualifikation entwickelt werden, die finanziell zu fördern ist.
Das KHVVG orientiert sich in vielen Punkten an der Krankenhausplanung NRW. Die oben bereits genannten Schwächen in der Definition der Leistungsgruppen müssen daher auf Landesebene überwunden werden. Bei der konkreten Umsetzung in der Krankenhausplanung NRW ist eine Balance zwischen einer planerisch gesteuerten Zentralisierung hochspezialisierter Leistungen und der flächendeckenden, auch heimatnahen Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen zu wahren. Hierfür sind die in der Versorgung erkrankter Kinder und Jugendlicher aktiven Expert:innen einzubinden. Durch eine geeignete politische Planung und den Aufbau von shared-care Modellen wird eine heimatnahe Grundversorgung bei gleichzeitiger Einbindung in die hochspezialisierte Versorgung an einem Zentrum ermöglicht.
Quellen und ergänzende Literatur:
[2] Kaman, A., Erhart, M., Devine, J., Reiß, F., Napp, A-K., Simon, A. M., Hurrelmann, K., Schlack, R., Hölling, H., Wieler, L. H. & Ravens-Sieberer, U. (2023). Zwei Jahre Pandemie: Die psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen - Ergebnisse der COPSY-Längsschnittstudie. Deutsches Ärzteblatt, 0, 120. https://doi.org/10.3238/arztebl.m2023.0001
[4] Altöttinger Papier der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, https://www.dgspj.de/qualitaetssicherung/altoettinger-papier/
[5] Interdisziplinäre verbändeübergreifende Arbeitsgruppe Entwicklungsdiagnostik (IVAN) des BVKJ, der DGAAP und der DGSPJ: https://www.dgspj.de/wp-content/uploads/2015-05-12-Publikationsfassung-INternet.pdf
Zum detaillierten Aufgabenspektrum des ÖGD sei auf Veröffentlichungen „Public Health vor Ort“ in „Das Gesundheitswesen“ und „Pädiatrie im ÖGD“ im „Kinder- und Jugendarzt“ verwiesen. (Leitbild für einen modernen Kinder- und Jugendgesundheitsdienst (KJGD) in Deutschland: Stellungnahme des Fachausschusses KJGD im BVÖGD. Ellsäßer, G. Korebrits, C. Trost-Brinkhues G. Gesundheitswesen 2020; 82(12): 947-954 DOI: 10.1055/a-1159-7444; https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/a-1159-7444
Schwerpunktthema: 2020_Schwerpunktbroschuere-Paediatrische_Wege_und_Welten.pdf https://www.bvkj.de/fileadmin/bvkj/pdf/newsletter_info-post/publikationen/2020_Schwerpunktbroschuere-Paediatrische_Wege_und_Welten.pdf)