Veranstaltung: | Landesdelegiertenkonferenz 03./04. Juni 2023 in Münster |
---|---|
Tagesordnungspunkt: | D Dringlichkeitsanträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 04.06.2023 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Andere reden über Zäune, wir reden über Lösungen! Gemeinsam, solidarisch.
Beschlusstext
Internationale Konflikte und Krieg: Menschen fliehen überall auf der Welt vor
Gewalt und Verfolgung. Die meisten suchen Schutz innerhalb ihres eigenen Landes
oder in einem Nachbarstaat. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine
der größten Fluchtbewegung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst.
Zusätzlich beantragen mehr Menschen Asyl in Deutschland.
Seit vielen Jahren leisten unsere Kommunen in Nordrhein-Westfalen mit ihren
haupt- und ehrenamtlichen Strukturen unglaubliche Arbeit bei der Unterbringung
und Versorgung von Menschen, die vor Krieg und Verfolgung zu uns flüchten. Die
Herausforderungen, vor denen sie stehen, erkennen wir an: Nicht ausreichende
Unterbringungsmöglichkeiten, überlastete Behörden, fehlendes Personal in
Bildungseinrichtungen und fehlende verbindliche Zusagen für eine dauerhafte
finanzielle Beteiligung des Bundes.
Als Bündnis 90/Die Grünen NRW setzen wir uns für eine progressive Migrations-
und Fluchtpolitik ein, die diesen Unterstützungsbedarf der Kommunen und
Bundesländer anerkennt. Wir sehen mit Sorgen, wie in den letzten Wochen die
Diskurse um die europäische Asylpolitik verlaufen. Die Reaktion auf die
derzeitigen Herausforderungen ist ein Abschottungsdiskurs, der scheinbar
einfache Lösungen präsentiert. Gleichzeitig verschlechtert sich die Stimmung
gegenüber Geflüchteten zunehmend. Auch in NRW finden Demonstrationen gegen
Einrichtungen zur Unterbringung von Geflüchteten statt. Die Vorschläge zur
Asylpolitik reichen derzeit von einer „Abschiebeoffensive“ oder „Zäunen“ bis hin
zu einer völligen Aushöhlung der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Europäischen Menschenrechtskonvention. Menschenrechtsfragen geraten dabei aus
dem Blickfeld. Die Frage der Aufnahme von Geflüchteten soll an die europäischen
Außengrenzen und die Staaten um die europäische Union verlagert werden. Solche
Forderungen entspringen einem populistischen Kalkül. Für uns ist klar, dass
schutzsuchende Menschen dem nicht zum Opfer fallen dürfen und das Grundrecht auf
Asyl gewahrt bleiben muss. Der Schutz von Menschenrechten ist für uns keine
Verhandlungsmasse, sondern humanitäre Verpflichtung! Wir brauchen konkrete
Unterstützungen und Lösungen, die helfen. Wir stehen für eine
menschenrechtsorientierte Politik für geflüchtete Menschen: wir geben
geflüchteten Menschen Schutz, sorgen für geordnete Verfahren, verteidigen das
Recht auf Asyl und geben den Kommunen Rückhalt.
Besonders in Hinblick auf die Ergebnisse des Beschlussvorschlags von
Bundeskanzler Olaf Scholz, das gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Länder
am 10. Mai 2023zu den anstehenden Verhandlungen um die Reform der Gemeinsamen
Europäischen Asylpolitik (GEAS) vereinbart wurde, stellen wir fest:
menschenrechtspolitische Errungenschaften dürfen nicht zur Disposition gestellt
werden und der individuelle Schutz von Asylsuchenden darf nicht ausgehebelt
werden. Hierbei machen wir nicht mit. Uns geht es um Solidarität, Verantwortung
und eine Flüchtlingspolitik, die auch unter schwierigen Bedingungen Humanität
und Ordnung schafft.
Wer die Herausforderungen anerkennt, hat zwei Möglichkeiten: Zur eigenen
Profilierung Narrative zu konstruieren, die die derzeitigen Herausforderungen
als unlösbar darstellen und daher eine weitere Einschränkung des Rechts auf Asyl
fordern. Oder daraus sachliche Maßnahmen abzuleiten, die unter Wahrung von
menschenrechtlichen Werten Lösungen anbieten. Als Bündnis 90/Die Grünen stehen
wir für letzteres. Wir verleihen daher als größtes Bundesland unseren bisherigen
Parteibeschlüssen sowie den vereinbarten Koalitionsvereinbarungen auf Bundes-
und Landesebene für einen vielschichtigen Lösungsansatz Nachdruck.
1. Kosten dauerhaft auf allen Schultern verteilen
Kommunen in Nordrhein-Westfalen stehen vor Herausforderungen, wenn sie dauerhaft
darauf vorbereitet sein möchten, dass Menschen bei ihnen unterkommen. Bislang
ist die Finanzierung für die Vorhaltung von Kapazitäten kaum bis gar nicht
möglich – auch die finanziellen Kapazitäten des Landes Nordrhein-Westfalen sind
dabei nicht ausreichend. Wir bekräftigen daher die Notwendigkeit einer
dauerhaften, stärkeren finanziellen Beteiligung des Bundes bei den Kosten der
Unterbringung und der Möglichkeit, Kapazitäten auszuweiten. Ein „atmendes
System“, der eine Kostenbeteiligung dynamisiert und über eine Grundbeteiligung
bei besonders hohem Bedarf finanziell die Kommunen und Länder entlastet, ist die
Voraussetzung, damit vor Ort agiert und vorausschauend geplant werden kann. Wir
betonen die Notwendigkeit, dass vor Ende des Jahres Ergebnisse eines
Kompromisses zwischen Bund und Ländern vorgestellt werden. Eine solche
finanzielle Zusage würde es den Kommunen und Engagierten in Nordrhein-Westfalen
ermöglichen, ihre wichtige Arbeit fortzusetzen.
2. Integration als Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft
Flächendeckend werden besonders fehlende Angebote und Plätze für Sprachkurse
bemängelt. Dabei sind sie die Grundlage, um sich einleben und an der
Gesellschaft partizipieren zu können. Die bürokratischen und administrativen
Anforderungen an Sprachkurs-Anbieter sollten auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft
und gegebenenfalls gesenkt werden. Besonders sind Angebote für Gruppen wie
Erziehungsberechtigte, die auf Betreuungsangebote angewiesen sind, zu schaffen.
Eine solche Ausweitung funktioniert nicht von heute auf morgen. Als Grüne setzen
wir uns für Kursangebote von Beginn an ein: Erstorientierungskurse, die bereits
in den Erstaufnahmeeinrichtungen angeboten werden können, müssen auch zukünftig
finanziell sichergestellt werden und so den Ausgangspunkt des Erlernens der
Sprache darstellen.
Weiterhin stellt die medizinische Versorgung einen weiteren essenziellen
Baustein dar. Frühzeitigen Zugang zum Gesundheitswesen und der vereinfachte
Zugang zu psychotherapeutischen und psychosozialen Angeboten sind zu
gewährleisten – damit werden dauerhafte Erkrankungen präventiv vermieden und die
betroffenen Personen und das System entlastet.
3. Arbeitsmarktzugang erleichtern – und auf allen Seiten gewinnen
Wer in verschiedene Gruppen zwischen „guten und schlechten“ Geflüchteten und
Zugewanderten unterscheidet und stigmatisiert, verschwendet willentlich
Potential. Denn viele Geflüchtete möchten arbeiten, dürfen es aber nicht.
Dabei ist völlig klar: In allen Bereichen, sei es für die Umsetzung der
Energiewende, in technischen oder im sozialen Bereich, brauchen wir auch in
Nordrhein-Westfalen Fach- und Arbeitskräfte. Dieses Potential möchten wir
nutzen: Betriebe sichern ihre Wettbewerbsfähigkeit, die Gesellschaft bekommt
dringend benötigte Arbeitskräfte, Menschen bekommen die Möglichkeit, einer von
ihnen gewählten Tätigkeit nachzugehen und sich in ihrem neuen Umfeld einzuleben
und sie sichern eigenständig ihre Lebenskosten.
Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Anerkennung von Berufsabschlüssen
vereinfacht wird, Qualifizierungsangebote ausgeweitet und Arbeitsverbote
aufgehoben werden. Bei Ausführung eines Berufs möchten wir aufenthaltsrechtliche
Wechsel in gesicherte Aufenthaltstitel stärken, weitere Reformen anschließend an
das Chancen-Aufenthaltsgesetz befürworten wir.
Wir setzen uns darüber hinaus für einen Spurwechsel ein, denn es geht auch darum
vorhandene Potenziale von bereits bei uns lebenden Menschen zu nutzen und
nutzbar für die Betroffenen zu machen.
4. Moderne Einwanderung mit modernen Behörden
Auch in Nordrhein-Westfalen sind viele Einwanderungs- und Ausländerbehörden
überlastet. In der Konsequenz sind Mitarbeitende überlastet und Menschen warten
auf Dokumente, die für die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit oder zur
Sicherung ihres Aufenthaltsstatus notwendig sind. Dem möchten wir mit mehr
Personal, das diese Belastung auf mehr Schultern verteilt, und dem Abbau
unnötiger Bürokratie entgegenwirken. Einen wichtigen Baustein dafür liefert die
Digitalisierung von Prozessen innerhalb der kommunalen Behörden sowie des
Bundesamts für Migration und Flucht sowie die Verlängerung bei der Erteilung von
Aufenthaltserlaubnissen. Bei dem Prozess der Digitalisierung sind Kommunen und
Länder auf das Mitwirken des Bundes und die durch die Bundesinnenministerin im
Februar angekündigte Unterstützung angewiesen.
5. Für eine echte europäische Solidarität
Die Europäische Union hat mit ihrer auf Abschottung angelegten Asyl- und
Migrationspolitik in den letzten Jahren viel Leid an den Außengrenzen
provoziert. Gleichzeitig sind alle Versuche, die mit der Migration
einhergehenden Aufgaben fair unter den Mitgliedstaaten zu verteilen,
gescheitert. So fehlte es sowohl an der Solidarität mit den Menschen auf der
Flucht als auch an innereuropäischer Solidarität. Wir brauchen aber in Europa
endlich eine verpflichtende Solidarität in der Flucht- und Migrationspolitik.
Wenn wir die Staaten mit Außengrenzen weiter alleinlassen, wird das heißen: Mehr
Pushbacks, mehr Zäune, mehr Leid. Mehr als 1000 Menschen sind seit Jahresbeginn
ertrunken. Unsere europäischen Werte gehen mit jedem Boot, das kentert, immer
weiter unter. Das Sterben im Mittelmeer, die Rechtsverstöße und
menschenunwürdigen Zustände an den Außengrenzen müssen endlich beendet werden.
Eine gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik, die die Würde der
Geflüchteten wahrt und die Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen mit ihren
Aufgaben nicht alleine lässt und alle 27 EU-Staaten in die Verantwortung nimmt,
muss unser Ziel bleiben.
Eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist deshalb dringend
notwendig. Die Europäische Kommission hat hierzu einen restriktiven Vorschlag
vorgelegt. Viele dieser Vorschläge halten wir für äußerst problematisch. So
werden weder die Ausweisung weiterer „Sicherer Drittstaaten“ noch verpflichtende
Grenzverfahren die Probleme lösen.
Die Bundesregierung verhandelt nun auf europäischer Ebene über diese Vorschläge.
Diese Verhandlungen gestalten sich äußerst schwierig, weil wir als Grüne in der
Kommission und auch in den anderen Mitgliedsstaaten wenig Verbündete für unsere
menschenrechtlich orientierte Position haben. Viele EU-Mitgliedsländer vertreten
eine restriktive Linie und wollen den Vorschlag der Kommission noch restriktiver
machen. Wir Grüne halten klar dagegen. Wir kämpfen für eine Europäische Union,
die die Genfer Flüchtlingskonvention und die Kinderrechtskonvention einhält.
Für uns Grüne ist die Sicherstellung des Zugangs zum individuellen Recht auf
Asyl und die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Kinderrechtskonvention sowie der Schutz vulnerabler Gruppen eine absolute
Priorität. Das individuelle Recht auf Asyl muss weiter und uneingeschränkt
gelten. Gleichzeitig braucht es einen verbindlichen Solidaritäts- und
Verteilmechanismus für die Aufnahme von Geflüchteten in der EU und die
Sicherstellung einer guten Versorgung.
Als Grüne setzen wir uns auf allen Ebenen dafür ein, den Herausforderungen mit
echten, solidarischen und menschenrechtsorientierten Lösungen zu begegnen. In
diesem äußerst schwierigen Verhandlungsumfeld werden wir gemeinsam mit unseren
Bündnispartnern in der Zivilgesellschaft dafür kämpfen, unsere Ziele für eine
Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zu erreichen.