Veranstaltung: | Landesdelegiertenkonferenz 29./30. Juni 2024 in Oberhausen |
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Tagesordnungspunkt: | 9. Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 30.06.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Pflege stärken, Leiharbeit regulieren
Beschlusstext
Wir GRÜNE in NRW setzen uns ein für eine hochwertige und menschenwürdige
Versorgung sowie ein gutes Arbeitsklima im Gesundheits-/Pflegesystem bei
gleichzeitiger Sicherstellung von Praktikabilität und Finanzierung. Dieser
Dreiklang ist jedoch gefährdet und einige Einrichtungen behelfen sich bei
Personalengpässen mit Leiharbeit. Anstatt dieses Symptom des strukturellen
Pflegenotstands zu verbieten, wollen wir neben notwendiger Regulierung auch
Alternativen aufzeigen, die Ursachen angehen und geeignete Maßnahmen in einem
Pflegestärkungsgesetz zusammenführen.
Zwar stieg der Anteil an Leiharbeit zuletzt an, allerdings auf durchschnittlich
niedrigem Niveau. In Krankenhäusern liegt der Anteil der Leiharbeit bei 1-2%,
wobei 2021 nur etwa 30% der Krankenhäuser Leiharbeit nutzten. Die Anteile in der
Langzeitpflege liegen punktuell deutlich höher, was vor allem ein Warnsignal für
die entsprechenden Einrichtungen ist.
Wir als GRÜNE sehen Vor- und Nachteile der Leiharbeit: Aus Sicht der
Patient*innen ist eine Leiharbeitspflegekraft besser als keine pflegerische
Unterstützung, aber auch der Wunsch nach konstanter Pflegequalität durch
vertraute Personen zu berücksichtigen. Aus Sicht der Mitarbeitenden bietet sie
für manche bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen, weswegen wir die
individuelle Entscheidung gut nachvollziehen können, sorgt aber auch für mehr
Ungleichheit, da die Stammbelegschaft die größeren Lasten trägt. Aus Sicht der
Einrichtungen ist die Leiharbeit teils unverzichtbar, um Mindestbesetzungen
sicherzustellen, aber auch unverhältnismäßig teuer und nicht immer
refinanzierbar.
Das bringen wir als Politik zusammen, indem wir:
Anreize und Förderungen schaffen zur langfristigen Sicherung von
qualifiziertem Personal und Teamzusammenhalt
Personalpools in Verbünden und gut bezahlte Notfallreserven vereinfachen
Pilotprojekte für neue Arbeitsplatzmodelle im Sinne von New Work
einrichten
die verbindliche kommunale Pflegebedarfsplanung flächendeckend umsetzen
und quartiersorientiert ausrichten
pflegende An- und Zugehörige deutlich stärker unterstützen
Leiharbeit - wo notwendig - stärker regulieren und begrenzen
Ursachen bekämpfen
Wertschätzung
Nur 30% der Pflegekräfte können sich vorstellen, ihren Job bis zum
Renteneintritt auszuüben. Neben der hohen Arbeitsbelastung spielt dabei auch
mangelnde Wertschätzung und Bezahlung eine Rolle. Pflege wird beklatscht, aber
nicht wirklich anerkannt. Wir GRÜNE wollen deshalb die Akademisierung der Pflege
fördern und haben dafür bereits eine Ausbildungsvergütung auf den Weg gebracht.
Denn auch die Bezahlung ist eine Form der Wertschätzung. Gleichzeitig muss ein
niedrigschwelliger Zugang in den Pflegebereich weiter gegeben sein und
attraktiver gestaltet werden, u.a. für Pflegehilfskräfte. Obwohl das Tarifniveau
in der Pflege in NRW deutschlandweit am höchsten ist und die 2022 eingeführte
Vergütung gemäß Tarifverträgen zu teils deutlichen Verbesserungen geführt hat,
gibt es weiterhin hohe Lohnunterschiede in unterschiedlichen
Beschäftigungsformen. Urlaubs- sowie Pausenregelungen werden durch Schlupflöcher
umgangen. Hier muss der Bundesgesetzgeber absichernd nachsteuern. Wir fordern
daher den Korridor für übertarifliche Bezahlung in der Refinanzierung auf 15% zu
erhöhen und Zuschläge für Nacht- und Wochenenddienste komplett steuer- und
abgabenfrei zu stellen.
Anders arbeiten
Nur zufriedene Pflegekräfte bleiben dauerhaft im Betrieb. Das erfordert nicht
nur verbesserte Personalschlüssel bzw. Leistungsentgelte für alle Berufsgruppen
in der Pflege, Hauswirtschaft und im Sozialen Dienst, sondern auch die Erprobung
neuer Konzepte, wie New Work oder Buurtzorg, in Pilotprojekten, mit weniger
Hierarchie und mehr Möglichkeiten zur Potenzialentfaltung. Flexibilität,
Freiheit und Selbstbestimmung sowie kontinuierliche Weiterentwicklung steigern
die Motivation. Konkret: Individuelle und familienfreundliche Arbeitsregelungen
(z.B. 4-Tage-Woche), kleinere selbstbestimmte Zeitbudgets (in Absprache mit der
Teamleitung, z.B. am Bett, Projekte, Abteilungspraktika), mehr Mitsprache (z.B.
bei Dienstplänen), digitalere Abläufe, eigenverantwortlich heilkundliche
Aufgaben übernehmen, Fortbildungen und interprofessionelle Teams. Die dafür
notwendige transformationale Führung muss dann mehr motivieren und für
Partizipation und Eigeninitiative sorgen. Das wollen wir bei Pflegeeinrichtungen
und -angeboten sowie mehreren Abteilungen von NRW-Unikliniken testen.
Leiharbeit regulieren
Leiharbeit ist teils notwendig, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten,
aber keine optimale Lösung für den Personalmangel in der Pflege. An einigen
Stellen setzen wir uns für deren stärkere Regulierung ein. Wir wollen aggressive
Abwerbekampagnen durch Leiharbeitsfirmen unterbinden. Diese müssen Verantwortung
und Kosten für fachliche Qualifikation sowie ortsbezogene Einarbeitung und
Prozess-Standardisierung übernehmen (Haftungsfreistellung). Ihre
Betriebserlaubnis wollen wir an branchenspezifische Standards knüpfen
(Zertifizierungen). Zur Qualitätssicherung und Bewahrung des Betriebsklimas
halten wir einrichtungsbezogene Obergrenzen von Leiharbeitenden für angeraten.
Übermäßige Gewinnmargen bei der Arbeitnehmerüberlassung (ANÜ) lehnen wir ab und
wollen die Refinanzierung anpassen. Bei Nicht-Einhaltung der ANÜ streben wir
verbindliche gesetzliche Ausfallzahlungen an.
Stationären Bedarf senken
Pflege im Quartier
Den Bedarf an Leiharbeit können wir nur reduzieren, wenn wir Strukturen
schaffen, die ambulante statt stationäre Behandlungen und Pflege ermöglichen.
Weg von Großeinrichtungen hin zu einer umfassenden Pflege u.a. in
Pflegewohngemeinschaften und netzwerkorientierten Trägerstrukturen und Angeboten
im Lebensumfeld der Betroffenen, die zudem ein besseres Arbeitsumfeld für
Pflegende schaffen. Hierzu ist eine sektor- und trägerübergreifende
Zusammenarbeit inklusive Aufbau gemeinsamer personeller Ressourcen notwendig,
ebenso wie der Ausbau von präventiven und vorpflegerischen Angeboten. Das Alten-
und Pflegegesetz (APG NRW) sowie Wohn- und Teilhabegesetzes (WTG) werden wir
quartiersorientiert weiterentwickeln. Im Landesförderplan "Alter und Pflege"
wollen wir einen Personalkostenzuschuss für die Einstellung von
Quartiersmanager*innen in den Kommunen verankern. Die Pflegeversicherung muss
künftig auch pflegeunterstützende Quartiersarbeit mit refinanzieren.
Häusliche Pflege
Menschen, die auf eine Dauerpflege angewiesen sind, möglichst lang den Verbleib
in ihrer Wohnumgebung zu ermöglichen, entspricht oft ihrem Wunsch und nach der
UN-Behindertenrechtskonvention auch ihrem Recht. Eine gute häusliche Pflege
könnte die stationäre Pflege entlasten. Doch davon sind wir weit entfernt: viele
häuslich Pflegende sind psychisch sowie physisch überfordert und arbeiten teils
in einer arbeitsrechtlichen Grauzone. Das erfordert nicht nur besser
koordinierte quartiersorientierte Strukturen, sondern auch deutlich mehr
Unterstützung. Wir vernetzen professionelle Anbieter, ehrenamtliche und private
soziale Netzwerke und Familien, um gemeinsam unterstützende Strukturen zur
Versorgung pflegebedürftiger Menschen zu entwickeln. Wir setzen uns für
rechtssichere, faire und bezahlbare Pflege-Modelle ein. Wir wollen
Lebensarbeitszeitkonten einführen, damit Menschen ihre Wochenstunden flexibel
gestalten können, um u.a. auf den Pflegebedarf ihrer Angehörigen reagieren zu
können. An- und Zugehörige wollen wir stärker unterstützen: mit höherer
Verfügbarkeit von Verhinderungspflege, perspektivisch mit einem aufstockenden
Landespflegegeld für Pflegebedürftige, durch Ausbau der Tages-, Nacht und
Kurzzeitpflege, von Pflege-WGs, Quartierstützpunkten oder Nachbarschaftszentren.
Alternativen prüfen
Personalpools
In Zeiten des Fachkräftemangels brauchen wir innovative Ansätze, um die
Versorgung in der Pflege aufrechtzuerhalten. Verbundkonzepte, die verschiedene
Einrichtungen miteinander verbinden, können eine Lösung sein. Die teilweise
bereits eingesetzten Personalpools ermöglichen es, qualifizierte
Mitarbeiter*innen über mehrere Betriebe, Träger und Bereiche hinweg einzusetzen,
was Flexibilität erhöht und gleichzeitig eine langfristige Bindung der
Fachkräfte an eine übergeordnete Teamstruktur fördert. Das sollte in allen
weiteren Bedarfsplanungen des Landes NRW bzw. der Kommunen berücksichtigt
werden. Wir wollen die Nutzung von Personalpools in allen Bereichen der Pflege
vereinfachen und bei gleichzeitiger Sicherung von Qualität und Standards
haftungs- sowie datenschutzrechtlich absichern.
Geflüchtete einbinden
Es gibt ein nicht geringes Potenzial an jungen, interessierten Menschen, denen
aber die Zusicherung fehlt, zum Beispiel eine Pflege-Ausbildung auch beenden zu
können, sondern und darüber hinaus eine mittelfristige Perspektive in unserem
Land für sich selbst zu haben. Die Pflegebetriebe wiederum benötigen
diesbezüglich Planungssicherheit. Hier ist eine Gesetzesänderung notwendig.
Notfallreserven
Ein weiterer Ansatz zur Sicherung personeller Ressourcen und mehr
Planungssicherheit besteht in der Schaffung von vorhaltbaren personellen
Notfallreserven, angelehnt an Bereitschaftsdienste. Hierfür kommen
Teilzeitbeschäftigte in Frage, ebenso wie ehemalige Pflegekräfte und
Vollzeitbeschäftigte, die punktuell bereit wären mehr zu arbeiten. Eine
überdurchschnittliche Entlohnung und klare Definition der Rahmenbedingungen
wären entscheidend für deren Bereitschaft zur räumlichen und zeitlichen
Flexibilität im Einsatzfall. Dem Team aus der Not zu helfen und anderen
unerwünschte Pflicht-Springereinsätze zu ersparen, sind, verbunden mit der damit
verbundenen Wertschätzung, ein weiterer Motivator. Wir fordern hierzu auf
Landesebene Pilotprojekte, insbesondere zur Koordination von
trägerübergreifenden Notfallpools und anderen Formen der Rekrutierung von
Notfallreserven, mit anschließender Evaluation.