Veranstaltung: | Landesdelegiertenkonferenz 29./30. Juni 2024 in Oberhausen |
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Tagesordnungspunkt: | 9. Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 29.06.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
Der NSU-Terror braucht ein würdiges Erinnern - auch in NRW
Beschlusstext
Die Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) und das
Staatsversagen bei dessen Verfolgung und Aufklärung ist eines der dunkelsten
Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte und stellt eine tiefe Zäsur dar.
Die drei rechtsextremen Haupttäter*innen ermordeten zwischen 2000 und 2007 neun
Menschen mit Migrationsgeschichte und eine Polizistin, verübten 43 Mordversuche,
drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Das Umfeld an Beteiligten und
vernetzten Unterstützer*innen wird auf 100 bis 200 Personen geschätzt, darunter
V-Personen und Funktionäre rechtsextremer Parteien.
Viele dieser schrecklichen Taten fanden auch in NRW statt. In der Kölner
Innenstadt wurde 2001 eine 19-jährige Deutsch-Iranerin bei einem Anschlag auf
das Kölner Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern schwer verletzt. Drei Jahre später
verübte der NSU in Köln-Mülheim einen Nagelbombenanschlag, bei dem über 20
Menschen mit meist türkischer Migrationsgeschichte teils schwer verletzt wurden.
2006 ermordete der NSU den Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık.
Rassistische Motive bei den Taten wurden von den Ermittlungsbehörden lange Zeit
negiert und noch Mitte der 2000er Jahre wurde vom Verfassungsschutz beteuert,
dass es so etwas wie eine "braune RAF" in Deutschland nicht gebe. Eine
dramatische Fehleinschätzung. Auch nach Bekanntwerden der schrecklichen
Verbrechen blendeten die Ermittler*innen und ein Großteil der Öffentlichkeit die
rechtsextremen Hintergründe über viele Jahre weitgehend aus und suchten die
Täter*innen stattdessen im Umfeld der Opfer. Eine unerträgliche und bis heute
schmerzhafte Stigmatisierung derer, denen gerade erst Schlimmstes widerfahren
war.
Dieses Handeln hat das Vertrauen vieler Menschen in die Ermittlungsbehörden und
unseren Staat tief erschüttert. Und ausgerechnet als der Öffentlichkeit das
Ausmaß der jahrelangen Mord- und Anschlagsserie offenbar wurde, vernichteten
Beamt*innen des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern relevante Akten und
behinderten so die Aufklärung, die wir den Opfern und Angehörigen schuldig sind.
Trotz der historischen Anzahl von 15 parlamentarischen Untersuchungsausschüssen
auf Bundes- und Landesebene und des Prozesses gegen fünf Angeklagte bleiben noch
immer zahlreiche Fragen unbeantwortet. Auch 13 Jahre nach der Aufdeckung des
"Kerntrios" ist die Aufklärung des NSU-Komplexes noch nicht abgeschlossen. Die
Netzwerke des NSU, die Rolle von V-Personen und die Kenntnisse von
Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern - all dies liegt weiterhin zu Teilen im
Dunkeln.
Der Terror des NSU war eindeutig rassistisch motiviert und ein schwerwiegender
Angriff auf unsere vielfältige Gesellschaft und unser demokratisches
Miteinander. Der Schmerz, der Verlust und die Stigmatisierung, die den
Betroffenen zugefügt wurde, ist unermesslich und wirkt bis heute nach. Daraus
erwächst eine immense politische Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft.
Wir GRÜNE NRW stellen uns dieser Verantwortung.
Die Bundesregierung hat 2022 den Nationalen Gedenktag für die Opfer
terroristischer Gewalt für den 11. März eingeführt, der auch an die Opfer der
NSU erinnert. In diesem Jahr konnten wir dieses Gedenken bereits zum dritten Mal
begehen. Wir setzen uns dafür ein, dass dieser Tag auch auf Landes- und
kommunaler Ebene mit Leben gefüllt wird.
Gerade in Zeiten, in denen die Bedrohung vor allem durch rechtsextremistische,
rassistische und antisemitische Gewalt wächst, braucht es eine konsequente
Aufarbeitung und vollständige Aufklärung der Verbrechen. Wir betrachten dies als
eine zentrale staatliche Aufgabe und auch als einen wichtigen Beitrag bei der
Prävention von rechtsextremistischen Taten. Denn nur durch eine vollständige
Aufklärung kann die gesellschaftliche Sensibilität für gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit erhöht werden.
Bis heute sind die Dokumentation der Verbrechen des NSU und das Gedenken an die
Opfer nicht ausreichend in der Bundesrepublik und in NRW verankert. Diese Lücke
muss geschlossen werden. Wir GRÜNE NRW begrüßen, dass die Ampel-Koalition im
Bund sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt hat, die Aufarbeitung
energisch voranzutreiben und ein Archiv zu Rechtsterrorismus in Zusammenarbeit
mit betroffenen Bundesländern auf den Weg zu bringen.
Damit folgt die Koalition der jahrelangen Forderung von Opfern und Angehörigen.
Im Rahmen einer Machbarkeitsstudie der Bundeszentrale für politische Bildung
wurden zudem wichtige Kriterien für ein Dokumentationszentrum des Bundes für die
Opfer des NSU erarbeitet. Dazu gehört, dass dieses Dokumentationszentrum das
umfassende Staatsversagen thematisiert, Orte des würdigen Gedenkens schafft und
Bildungsangebote zur Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland
bereitstellt. Wir begrüßen, dass die Bundesregierung gemeinsam mit dem Freistaat
Sachsen und der Stadt Chemnitz bereits ein NSU-Dokumentationszentrum vor Ort
plant. An diesem Ort, an dem sich die Täter*innen über Jahre lang verstecken
konnten und sich sicher fühlten, soll an die Opfer erinnert, das Geschehene
aufgearbeitet und Raum für politische Bildung geschaffen werden.
Für den Aufbau einer bundesweiten, mehrortigen Dokumentation und Erinnerung
braucht es eine dauerhafte und angemessene finanzierte Trägerstruktur in Gestalt
einer öffentlich-rechtlichen Stiftung. Die Gesetzgebung für diese
Stiftungsgründung muss noch vor der nächsten Bundestagswahl abgeschlossen
werden.
Die Aufarbeitung der Taten und das Gedenken an die Opfer ist eine Aufgabe von
Staat und Gesellschaft. Die Perspektive der Opfer und Angehörigen muss dabei
höchste Priorität haben und ihre Einbeziehung auf Augenhöhe sichergestellt sein.
Nur unter diesen Voraussetzungen kann ein gesamtgesellschaftlicher
Erinnerungsprozess gelingen und ein Dokumentationszentrum die notwendige
Akzeptanz erfahren.
Die Zahl der Betroffenen ist in NRW besonders hoch. Wir GRÜNE NRW setzen wir uns
deshalb für den Ansatz eines zentralen NSU-Dokumentationszentrums mit
zusätzlichen dezentralen Erinnerungsorten und Aufarbeitungsinitiativen ein. NRW
muss als Bundesland Teil dieser mehrortigen Standort-Suche sein.
Ein so strukturiertes Dokumentationszentrum zum NSU wäre ein wichtiges Zeichen,
dass die Betroffenen von Staat und Politik ernstgenommen werden, nachdem sie
lange stigmatisiert wurden. Mit einer dezentralen Verbundstruktur können bereits
bestehende Erinnerungsorte und Aufarbeitungsinitiativen abgesichert und
unterstützt werden, um so der Mehrortigkeit des NSU-Komplexes gerecht zu werden
und im Sinne der Opfer und Angehörigen ein Gedenken in der Nähe der Heimatorte
zu ermöglichen. Dafür muss auch eine Berücksichtigung der Orte in NRW
sichergestellt sein.
Viele Opfer und Angehörige fühlen sich heute noch mit ihren Traumata und einer
teils finanziell-prekären Lage allein gelassen. Rassismuserfahrungen durch die
polizeiliche Ermittlung, mediale Diffamierung, soziale Stigmatisierung,
gesellschaftliche Ignoranz und staatliches Versagen wirken bis heute bei ihnen
als gewaltsame Erfahrungen nach. Deshalb sind umfassende psychosoziale Angebote
und finanzielle Entschädigungen für alle Betroffenen der NSU-Verbrechen wichtig.
Nichts kann das entstandene Leid ungeschehen machen. Doch Aufarbeitung,
Entschädigung und Erinnerung sind das Mindeste, was wir den Opfern, ihren
Angehörigen und zukünftigen Generationen schuldig sind. Nur so können wir dazu
beitragen, das verlorene Vertrauen in unsere Behörden und den Staat
wiederherzustellen und unserer Verantwortung gerecht zu werden.