Veranstaltung: | Landesdelegiertenkonferenz 29./30. Juni 2024 in Oberhausen |
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Tagesordnungspunkt: | 9. Verschiedenes |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesdelegiertenkonferenz |
Beschlossen am: | 30.06.2024 |
Antragshistorie: | Version 2 |
NRW-Lehrkräfteausbildung in das 21. Jahrhundert holen!
Beschlusstext
Tausende Lehrer*innen in NRW arbeiten jeden Tag für mehr Chancen und
Bildungsgerechtigkeit. Sie sind der Schlüssel zur Bildung und engagieren sich
mit Herzblut. Dabei möchten wir sie noch stärker unterstützen, und dazu gehört
eine bestmögliche Chance der Ausbildung. Wir wollen die Lehrkräfteausbildung
endlich den aktuellen Erfordernissen und Bedarfen anpassen. Wir wollen die
Ausbildung unserer Lehrer:innen in das 21. Jahrhundert holen!
Einiges läuft schief in der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer in NRW –
vieles schon seit langem, andere Dinge sind erst durch die neuerlichen
Herausforderungen zutage getreten. Wir GRÜNE fordern schon seit Langem, das
System Schule als Ganzes fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Die Einführung
des Praxissemesters ist neben kleineren Änderungen an der OVP, den Lehrplänen im
Referendariat und der Zusammenlegung des Eignungs- und des
Orientierungspraktikums die einzige Reform gewesen, die den Namen verdient hat.
Das Feedback zeigt, dass diese Reform neben positiven auch negative Effekte mit
sich brachte. Es wird Zeit, die Rückmeldungen aus den Unis, Schulen und
Seminaren, von Professor:innen, Student:innen und Lehrer:innen in die Realität
zu überführen. Es wird Zeit für einen neuen Aufschlag im Bildungsbereich. In
diesem Antrag möchten wir GRÜNE Forderungen sammeln, die die LAG Bildung in
monatelanger Arbeit mit Stakeholdern im Bereich Lehramtsausbildungund in
Zusammenarbeit mit der LAG Hochschulpolitik besprochen hat und wir fordern GRÜNE
im Parlament und der Regierung auf, auf die Umsetzung dieser Punkte hinzuwirken.
Ausreichende Ausbildung in den Universitäten und Attraktivität des Studiums
sichern
Die Prognosen der Bedarfe sind für Universitäten oft undurchsichtig, es findet
teilweise eine starke regionale Unterversorgung von speziellen Bildungsgängen
statt. Die Landespolitik, insbesondere das Ministerium für Schule und Bildung,
muss in Zusammenarbeit mit den Hochschulen ausreichend und am regionalen Bedarf
orientierte Plätze in Lehramtsstudiengängen für NRW bereitstellen. Diese
Studiengänge müssen optimal auf den zukünftigen Beruf vorbereiten, praxisnah und
attraktiv gestaltet sein, damit ausreichend Lehrkräfte ausgebildet und für den
zukünftigen Beruf gewonnen werden können. Hier sind ein guter Dialog mit den
Hochschulen, das Schaffen von guten (Studien)Strukturen und Anreizen wichtig.
Hier muss es zu einem Interessenausgleich zugunsten der Lehrkräfteversorgung
kommen. Es fehlen bereits jetzt etliche Lehramtsstudienplätze an den
Hochschulen. Das wollen wir ändern. Gleichzeitig müssen mehr Menschen für die
Aufnahme eines Lehramtsstudiums gewonnen werden, damit der Bedarf Lehrkräften
nachhaltig gedeckt werden kann. Aus diesem Grund sollte die Durchlässigkeit der
Studiengänge erhöht werden. So können für das Lehramtsstudium geeignete
Wechsler:innen und Abbrecher:innen aber auch Absolvent:innen mit
Bachelorabschlüssen aus fachnahen Studiengängen auch von Fachhochschulen für das
Studium gewonnen werden. Ein weiteres Augenmerk sollte auf berufsbegleitenden
und weiterbildenden Studiengängen/ Teilzeitstudiengänge/ Studieren mit
besonderen Bedürfnissen (Kinder,Pflege etc.) liegen.Darüber hinaus sollten
Lehramtsstudierende besser in die Schulen insbesondere am Studienort eingebunden
werden, auch um in der Praxis mehr engagierte und tatkräftige Menschen im System
zu ermöglichen.
Wir fordern:
- regional nachvollziehbare und öffentliche Bedarfsprognosen für die
einzelnen Lehrämter
- regelmäßige landesweite Werbeaktionen aus Landesmitteln für das
Lehramtsstudium auf den Bildungsmessen, über "Kein Abschluss ohne
Anschluss" (KAoA) und in der Öffentlichkeit
- eine bessere Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium und den Hochschulen,
Anreize und Förderprogramme für die Überarbeitung bestehender
Lehramtsstudiengänge und die Einführung von neuen innovativen
Studiengängen die regionsnahe Ausbildung von Lehramtsstudierenden, sodass
das Lehrerausbildungsgesetz (LABG) und die Leistungsorientierte
Mittelverteilung (LOM) nicht gegeneinander ausgespielt werden
- eine unbürokratische, schnelle Überprüfung bestehender
Lehramtsstudiengänge mit einer Strategie gegen überdurchschnittliche
Studienabbrüche im Lehramtsstudium und dieses Phänomen engmaschig zu
monitoren
- für die meisten Studierenden qualitativ hochwertige und vielfältige
Lehramtsstudiengängen in der Region
- verpflichtende pädagogische Bestandteile im Bachelor- und
Masterstudiengang, sowie in der zweiten Ausbildungsphase angehender
Lehrer*innen, die Sensibilitäten und Kompetenzen im Umgang mit kulturell
und sprachlich heterogenen Klassen, sowie dem Thema Rassismus und
Diskriminierungserfahrungen von BIPoc-Schüler*innen und Lehrer*innen
vermitteln.
Junglehrkräfte fit für die Zukunft machen
Es ist beinahe eine Binsenweisheit: „Was wir in der Uni lernen, brauchen wir im
Job niemals wieder“. Wir teilen die Pauschalität dieser Aussage nicht. Es muss
immer eine universitäre Phase der Lehramtsausbildung geben, unsere Lehrer:innen
müssen in der Lage sein, ihren Alltag theoriegeleitet reflektieren zu können.
Dazu braucht es den Input aus dem Seminarraum. Dennoch braucht es auch im
Studium regelmäßig den Input aus dem Klassenraum.
Wir fordern daher:
- Hospitation, Co-Teaching und Unterricht unter Anleitung bereits im Studium
verstärkt durchzuführen, indem Lehre an der Universität mit Ausbildung am
Zentrum für schulpraktische Lehrkräfteausbildung (ZfsL) und der Schule
auch im Bachelor miteinander verschränkt werden
- Bildungswissenschaftliche Theorien in der Realität beobachten zu können,
indem Kooperationen zwischen Unis und Schulen gefördert werden, zum
Beispiel im Förder- und Nachmittagsbereich
- Reflektion der Handlung im Lernort Schule für Lehramtsstudierende in den
Mittelpunkt zu rücken
- Fachleiter:innen in Durchläufen mit weniger Referendaren projektweise an
der Uni arbeiten zu lassen
- weitere Strategien zur Verbesserung der Betreuungsrelation entwickeln
Lehramtsstudierende frühzeitig als Ressource sehen und mit Hilfe
multiprofessioneller Teams ins System integrieren
Es herrscht Lehrkräftemangel. In vielen Fächern muss regelmäßig Unterricht
ausfallen, weil Fachlehrer:innen fehlen – 2024 war es eine von 5 Schulstunden.
Andererseits finden Lehrende in Überflussfächern längere Zeit keinen festen Job.
Dieses Spannungsfeld ist jungen Lehramtsstudierenden auch vor der
Fächerentscheidung bewusst. Es ist wichtig, dass Lehramtsstudierende auch
außerhalb des Systems Schule Erfahrungen machen – es ist aber ebenso wichtig,
dass Ihnen Angebote gemacht werden, sich mit dem System bekannt zu machen.
Aktuell ist es so, dass alle Lehramtsstudierenden mit Studijobs außerhalb des
Bildungssektors einen Verlust für unser Bildungssystem darstellen, den wir nicht
verkraften können. Kurzfristig sind Studierende eine wichtige Ressource, da sie
gezielte und qualifizierte Angebote gestalten können.
Daher fordern wir:
- multiprofessionelle Teams an allen Schulformen und -standorten etablieren,
beginnend mit dem schwächsten schulscharfen Sozialindex
- Schulleitungen die Freiheit lassen, wen sie einstellen und ihnen
schulscharf Budgets bereitstellen
- Schulleitungen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden, ob sie IT-,
Verwaltungs-, oder Förderexpertise an ihre Schule holen möchten
- proaktiv ein Landesportal für MPT-Stellen bereitstellen
Querschnittsthemen als solche behandeln: schulformübergreifende Ausbildung
stärken und fächerübergreifende Thematiken gemeinsam vermitteln
Die Trennung zwischen den Schulformen ist eine zufällige. Dennoch führt sie zu
Schranken im Kopf, wenn Lehrkräfte der Primar- oder Sekundarstufe nebeneinander
das gleiche lernen. Inklusion, Digitalisierung und Differenzierung sind Themen,
die alle Lehrkräfte kompetent behandeln können müssen. Wir halten es für
bereichernd, wenn ein Sek-II Lehrer sich mit der Grundschullehrkraft austauschen
kann und sie sich gemeinsam fortbilden können. Wir finden es wichtig, dass sich
Fachlehrkräfte unterschiedlicher Fächer über ihre Herangehensweise mit dem
gleichen Unterrichtsgegenstand austauschen. Nur so können wir beginnen, die
großen Probleme in den Übergängen zwischen den Schulen auszugleichen, nur so
kann der so wichtige fächerübergreifende Unterricht durchgeführt und geplant
werden.
Ein Kernproblem ist auch, dass die Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung
sehr unterschiedlich ausgestattet sind. Fachleiterinnen für Gymnasien haben
andere Arbeitszeiten und eine andere Besoldung als solche für Realschulen oder
die Grundschule, dabei sind die Berufsfelder beinahe identisch. Manche ZfsL
bieten alle Lehrämter an, andere sind deutlich kleiner und haben ein deutlich
begrenzteres Angebot.
Wir fordern:
- nicht zwingende Trennungen zwischen den Ausbildungs- und Prüfungsordnungen
der einzelnen Lehrämter aufzuheben
- die wohnortnahe Lehramtsausbildung zu stärken, indem allen
Seminarstandorten ermöglicht wird, alle Lehrämter auszubilden
- die Besoldung und finanzielle Ausstattung der unterschiedlichen Lehrämter
und deren Fachleitungen anzugleichen
- Zentren für schulpraktische Lehrkräfteausbildung ein von der
Beschäftigtenzahl abhängiges, festes Budget zur Erkundung außerschulischer
Lernorte zuweisen, das diese in Eigenverantwortung bewirtschaften dürfen
- langfristig: die Zusammenlegung der Studienordnungen
Flexibilisierung der zweiten Ausbildungsphase durch modulare Strukturierung
Die zweite Ausbildungsphase ist aktuell der erste bezahlte Einstieg für
Lehrkräfte in das Schulsystem. In der ersten, universitären Phase haben sie mit
Ausnahme des Praxissemesters nur kurzen und vergleichsweise unstrukturierten
Kontakt mit Schülerinnen und Schülern. Für viele Lehramtsanwärter:innen wird die
zweite Ausbildungsphase als übermäßig belastend erlebt. Wir können uns in der
aktuellen Situation nicht leisten, dass eigentlich leistungsfähige, aber in
dieser Situation über Gebühr belastete Menschen den Beruf als Lehrkraft nicht
ergreifen.
Die Bildungsforschung zeigt uns auch in anderen Bereichen, dass Fortschritte
nicht im Gleichschritt erfolgen, sondern individuell sind. Diese Erkenntnisse
müssen sich auch im Referendariat niederschlagen, um den Individuen in der
Ausbildung auch individuell gerecht werden zu können. Gleichzeitig stellen wir
auch klar, dass anderthalb Jahre Referendariat im Regelfall das Minimum an
Ausbildungszeit in der zweiten Phase sein sollten.
Wir fordern daher:
- die Flexibilisierung des Referendariats, sodass es zwischen 18 und 30
Monaten andauern kann
- perspektivisch die Abkehr von festen Einstellungsdaten
- die entsprechende strukturelle Aufstellung der ZfsL, um vom bisherigen
Gleichschrittmodell ohne Fliehkräfte wegzukommen
- die modulare Strukturierung der zweiten Phase der Lehramtsausbildung mit
einer Orientierung an den Bedürfnissen der Lernenden
- Hilfen und Verfahren für BIPoC-Referendar*innen und Lehrer*innen, die in
ihrer Ausbildung und am Arbeitsplatz mit Rassismuserfahrungen konfrontiert
sind.
Lehrkräfte nicht in den Burnout entlassen: die dritte Ausbildungsphase aktiv
ausgestalten!
Nach dem Referendariat, nach der Ausbildung ist das Lernen der Lehrkräfte nicht
vorbei. Das ist bereits jetzt eine Selbstverständlichkeit. Leider wird es nicht
ausreichend gelebt und gefördert.
Wir fordern:
- Schulen mit ausreichend Aus- und Fortbildungsbudgets ausstatten und die
Zahl der zugestandenen Fortbildungstage erhöhen
- Fortbildungen zentraler (z.B. über das MSB/ das QuaLis) organisieren, und
die Bezirksregierungen aus dieser Verantwortung entlassen
- Schulen verpflichtend mit Onboardingkonzepten und -beauftragten ausstatten
- Onboardingsphasen für alle Neueinstellungen und Neuankömmlinge an Schulen
verpflichtend machen
- die Flexibilisierung von Prüfungsmodellen und -formen schulscharf
ermöglichen
- Fortbildungsangebote konsequent in das Lehrkräfteleben integrieren, auf
die Stunden anrechnen und strukturell fördern
- perspektivisch die Korrekturbelastung durch Entlastungsstunden
auszugleichen
- langfristig die Stundenzahl aller Lehrkräfte in NRW zu verringern, sobald
die aktuelle Krisensituation sich gelegt hat
- In einem ersten Schritt Vertrauenspersonen an jeder Schule zu benennen, an
die sich Schüler:innen und Lehrkräfte mit Diskriminierungserfahrungen
wenden können.
Pilotprojekte „Ein-Fach-Lehrkraft“ und duale Lehrkräfteausbildung ermöglichen
Letztendlich kommt aber auch immer wieder ein Argument auf, dem wir uns nie ganz
verschließen konnten. Die zunehmende Verschränkung von Theorie und Praxis
schreit gerade danach, einen dualen Studiengang anzubieten. Wir wollen prüfen,
wie Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) sich in die
Lehrkräfteausbildung einbringen können und stärken insbesondere die Ausbildung
von Berufsschullehrkräften an HAWen. Außerdem kann die Attraktivität des
Studiengangs Lehramt auch von den Anforderungen abhängen, unbedingt zwei Fächer
studieren zu müssen. Gerade in Mangelfächern sollte es möglich sein,
Studiengänge mit entsprechend weniger CP anzubieten oder Masterstudiengänge auf
Fachbachelor bzw. -masterabschlüsse aufsatteln zu lassen.
Dieser Bereich ist kaum erforscht und Vor- und Nachteile sind schwer abzusehen.
Wir fordern daher, Pilotprojekte für diese Vorhaben in Zusammenarbeit mit
ausgewählten ZfsL, Unis und Schulen zu ermöglichen, beginnend in der
Primarstufe. Diese Projekte sollen fortlaufend wissenschaftlich begleitet und
evaluiert werden.