| Veranstaltung: | Digitaler Landesparteirat GRÜNE NRW am 15.11.2020 |
|---|---|
| Tagesordnungspunkt: | VL Vielfältige Partei in einem vielfältigen Land |
| Status: | Beschluss (vorläufig) |
| Beschluss durch: | Landesparteirat |
| Beschlossen am: | 15.11.2020 |
| Angelegt: | 15.11.2020, 13:42 |
| Antragshistorie: | Version 1 |
Gleichberechtigte Teilhabe jetzt – für eine Gesellschaft der Vielen in einer pluralen Demokratie!
Beschlusstext
Nordrhein-Westfalen ist heute vielfältiger und bunter denn je. Vielfalt kann
anstrengend oder mit Konflikten verbunden sein, aber Vielfalt ist nichts, was
als solches verhandelbar wäre – sie ist schlicht Normalität, insbesondere in
Nordrhein-Westfalen. Diese Tatsache anzuerkennen und im Sinne einer pluralen
Demokratie zu gestalten, bedeutet: Menschen sind unterschiedlich, aber gleich an
(Grund-)Rechten und Würde. Damit verbunden ist der Auftrag, die aktive,
sichtbare und gerechte gesellschaftliche, wirtschaftliche und demokratische
Teilhabe aller zu ermöglichen, Diskriminierung abzubauen und Ausgrenzung und
Segregation zu verhindern. Auch struktureller bzw. institutioneller
Diskriminierung muss entgegengewirkt werden. In einer freien Gesellschaft und
einer liberalen Demokratie darf die Identität eines Menschen kein Grund sein,
sie*ihn schlechter zu stellen, auszugrenzen oder abzuwerten. Teilhabe und
Mitbestimmung müssen jedem Menschen verbindlich gewährt werden – unabhängig von
sozialer, ökonomischer, kultureller oder sprachlicher Verschiedenheit, von
Hautfarbe, Religion oder Weltanschauung, Lebensalter, der sexuellen Identität,
einer Krankheit oder Behinderung.
Seit unserer Gründung setzen wir GRÜNE uns dafür ein, unsere vielfältige
Gesellschaft inklusiv zu gestalten, damit alle Menschen ohne Angst verschieden
sein können. Vieles haben wir erreicht, sei es im Staatsangehörigkeitsrecht, bei
der Gleichberechtigung der Geschlechter, bei der Ehe für Alle oder bei der
Inklusion. Und dennoch: Von einer gleichberechtigten Teilhabe für alle sind wir
in NRW und Deutschland noch weit entfernt. Das Versprechen von Gleichheit in
Vielfalt ist bislang unerfüllt. Es ist höchste Zeit, dies zu ändern.
So groß die Herausforderungen in allen Bereichen sind, so sehr ist derzeit
insbesondere die Debatte um Fragen der Teilhabe von Menschen mit
Migrationsgeschichte und/oder Rassismuserfahrung in den Fokus gerückt. In den
letzten Monaten ist, ausgehend von dem rassistischen Anschlag in Hanau und von
der „Black Lives Matter“-Bewegung, auch in Deutschland und NRW eine breite
gesellschaftliche Debatte entstanden, wie Politik, Behörden und
Zivilgesellschaft rassistischer Diskriminierung und Gewalt entgegentreten können
und Privilegien kritisch hinterfragen müssen. Die Debatten um gesellschaftliche
Anerkennung von Vielfalt und Migration sind nicht neu, aber sie sind in den
letzten Monaten intensiver geworden – nicht zuletzt auch durch das Bekanntwerden
rassistischer Netzwerke innerhalb der Polizei sowie des Verfassungsschutzes in
NRW und anderen Bundesländern, aber auch in der Diskussion um die
Unterrepräsentation von diskriminierten Gruppen in unseren Räten, Parlamenten
und Parteien.
Die schwarz-gelbe Landesregierung und die Große Koalition im Bund reagieren auf
diese Debatte mit Desinteresse, in Teilen gar mit bewusster Ignoranz. Statt die
strukturellen Ursachen für das (strukturell) diskriminierende und zu Teilen
rechtswidrige Verhalten von Repräsentant*innen staatlicher Behörden zu
untersuchen, um darauf mit strukturellen Maßnahmen reagieren zu können,
verklären die Innenminister Reul und Seehofer die bekannt gewordenen Fälle von
Racial Profiling, rassistischer Polizeigewalt und rechten Chatgruppen und
Netzwerken zu immer neuen „Einzelfällen“. Aber wer das Problem als strukturelles
leugnet, wird auch nicht die Kraft finden, es zu lösen. Der Kompromiss der
Großen Koalition im Bund zur Polizei-Studie verkehrt die Anliegen derer, die
ihre Grund- und Menschenrechte zur Disposition gestellt sehen, in ihr Gegenteil.
Teilhabe und Vielfalt stärken, Demokratie fördern, Einwanderungsgesellschaft
gestalten
Wir wollen unsere vielfältige Einwanderungsgesellschaft in NRW gestalten, indem
wir strukturelle Benachteiligungen abbauen, Rassismus bekämpfen und Teilhabe
fördern. Dabei stellen wir uns gegen Versuche, benachteiligte Gruppen
gegeneinander auszuspielen, und betrachten Diskriminierungen individuell sowie,
intersektional gedacht, in ihrer Verschränkung.
- Wir schaffen eine Landesantidiskriminierungsstelle zur Stärkung und
Bündelung der Antidiskriminierungsarbeit sowie als Anlauf- und
Beschwerdestelle für Verstöße gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
und setzen uns für die Erarbeitung eines
Landesantidiskriminierungsgesetzes ein, das die Rechte der*des Einzelnen
gegenüber staatlichen Institutionen stärkt.
- Wir wollen den öffentlichen Dienst, die Verwaltung auf kommunaler und
Landes-Ebene, interkulturell stärker öffnen und dort die Vielfalt unserer
Gesellschaft repräsentieren. Dafür wollen wir das Thema interkulturelle
Öffnung ganzheitlich in die Personalentwicklung integrieren und spürbar
mehr Menschen mit Migrationshintergrund, mit interkultureller,
multilingualer und internationaler Kompetenz den beruflichen Weg in die
öffentliche Verwaltung ermöglichen.
- Wir wissen aus Studien, dass menschenfeindliche Einstellungen in Teilen
unserer Gesellschaft fest verankert sind. Staatliche Institutionen sind
ein Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse, müssen aber höchsten
Erwartungen an Diskriminierungsfreiheit gerecht werden. Wir bekämpfen
deshalb strukturellen Rassismus konsequent, auch bei Behörden. Dazu
braucht es dringend eine aktuelle und unabhängige Studie zu rassistischen,
menschenverachtenden und rechtsextremen Einstellungen bei den
Beschäftigten in der Polizei NRW und im Verfassungsschutz NRW. Wir richten
die Stelle einer*eines unabhängigen Polizeibeauftragten ein und verankern
die regelmäßige Rotation von Mitarbeitenden.
- Wir wollen die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte breit in unsere
Bildungsarbeit verankern, denn unsere koloniale Vergangenheit ist ein
integraler Bestandteil unserer Geschichte und die kritische Aufarbeitung
muss auch immer Teil unserer Gegenwart sein.
- Wir lehnen Sprachchauvinismus ab, fördern Mehrsprachigkeit und sorgen mit
dafür, diese in allen Lebensbereichen sichtbar zu machen. Dazu gehört
auch, Mehrsprachigkeit in unseren Behörden aktiv einzusetzen. Die
Internetseiten von Ministerien und Verwaltung müssen in vielen Sprachen
bereitgestellt werden. Dies gilt auch für andere Informationsangebote,
etwa bezüglich der Gesundheitsaufklärung und -versorgung.
- Wir stärken und fördern interkulturelle Kompetenz, Demokratie und
Menschenrechtsbildung: Bestandteil der Curricula von einschlägigen
Berufsgruppen im öffentlichen Dienst, wie auch in privaten Einrichtungen
sollten die Grundlagen von Menschenrechtsbildung und interkultureller
Kompetenz sein.
- Wir stärken die emanzipatorische Zivilgesellschaft und binden
zivilgesellschaftliche Organisationen, Selbstvertretungs-Organisationen
und Ehrenamtliche stärker in politische Entscheidungsprozesse ein.
- Wir stärken die politische Teilhabe. Es kann nicht sein, dass Menschen,
die ihren Lebensmittelpunkt seit Jahren in NRW hatten, nicht einmal an der
Kommunalwahl teilnehmen können und ihnen damit die politische
Mitbestimmung über unmittelbare Entscheidungen vorenthalten wird. Deshalb
führen wir endlich das kommunale Wahlrecht auch für nicht-EU Bürger ein.
- Wir „mainstreamen“ Diversity: Lange Zeit ist etwa „Integrationspolitik“
als eigenständiges Politikfeld behandelt worden, dabei geht es immer
stärker darum, alle politischen Maßnahmen als Querschnittsaufgabe
daraufhin zu überprüfen, ob sie den Anforderungen einer vielfältigen
Gesellschaft gerecht werden. Das bedeutet dann auch, einen diversity- und
rassismuskritischen Ansatz in alle Themenfelder, von der Bildungs- bis zur
Stadtentwicklungspolitik zu tragen und dafür zu sorgen, dass
Bildungseinrichtungen diversitätssensibel und rassismuskritisch
ausgerichtet und ihr Personal entsprechen geschult werden müssen.
Vielfalt fängt bei uns selber an
Bei der Frage nach politischer Teilhabe und Vielfalt richten wir GRÜNE NRW den
Blick nicht zuletzt auch auf uns selbst. Was wir von Gesellschaft und Staat
fordern, müssen wir auch selbst umsetzen. Gerade Parteien sind gefordert, eigene
strukturelle Ungleichbehandlungen abzubauen und aktiv auf mehr Diversität
hinzuarbeiten. Als Grüne tragen wir eine besondere Verantwortung dafür, dass
sich die Vielfalt unserer Gesellschaft in unseren politischen Prozessen und
Strukturen selbst widerspiegelt. Wir müssen selbstkritisch anerkennen, dass auch
unsere Partei nicht frei von Diskriminierung ist und viele gesellschaftliche
Gruppen, insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder
Rassismuserfahrung, bisher deutlich unterrepräsentiert sind. Das betrifft unter
anderem die Zusammensetzung der Mitgliedschaft, von Vorständen und Fraktionen
auf allen Ebenen ebenso wie die Besetzung von Podien und die Auswahl von
Expert*innen. Dies hat strukturelle Ursachen, auf die wir mit strukturellen
Maßnahmen antworten werden. Dabei ist uns klar, dass zum einen eine 1:1-
Repräsentation aller Vielfaltsmerkmale schwer erreichbar ist und regionale
Unterschiede berücksichtigt werden müssen.
Mit den Ergebnissen der AG Vielfalt des Bundesverbandes von BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN sind wir auf einem guten Weg, um gleichberechtigte politische Teilhabe
und Repräsentation zu ermöglichen und Diskriminierung entgegenzuwirken. Wir
bekennen uns zu den entwickelten Instrumenten der AG Vielfalt – etwa die bessere
Repräsentation gesellschaftlicher Vielfalt als verpflichtendes Satzungsziel, das
regelmäßig evaluiert wird; Empowerment-Maßnahmen über Mentoring und andere
Programme sowie Institutionalisierung der Ziele über entsprechende Strukturen
und Statute in unserer Partei.
Jetzt gilt es, die Ergebnisse der AG Vielfalt auch in NRW umzusetzen und den
spezifischen Anforderungen auf der Landes-, aber auch auf der lokalen Ebene
gerecht zu werden. Der Landesparteirat beauftragt den Landesvorstand, gemeinsam
mit den Bezirksverbänden und -vorständen, der Grünen Jugend, der
Landtagsfraktion, den Landesgruppen im Bundestag und Europäischen Parlament
sowie der LAG Migration und Flucht Vorschläge für strukturelle Maßnahmen zu
erarbeiten und diese einer Landesdelegiertenkonferenz spätestens im Sommer 2021
zur Abstimmung vorzulegen. Dabei sollen Funktionsträger*innen sowie
Basismitglieder eingebunden und möglichst verschiedene Perspektiven abgebildet
werden. Der Landesvorstand stellt zudem eine Struktur, beispielsweise im Grünen
Netz, zur ersten Empowerment- und Netzwerkbildung zur Verfügung, über das auch
die Einbindung der Basismitglieder erfolgen kann, die über von Diskriminierung
und Machtungleichgewicht betroffene Differenzmerkmale verfügen.